Die Debatte über Kolonialgeschichte in Leipzig, die Völkerschauen im Zoo und den Leipziger Zoodirektor Ernst Pinkert
Eine quellenkritische Annäherung
Der Zoo Leipzig, der als international agierendes Unternehmen enge Kontakte in alle Welt unterhält, distanziert sich ausdrücklich von sämtlichen Formen des Rassismus und Postkolonialismus. Wiederholt hervorgebrachten Vorwürfen, der Zoo verschweige oder relativiere die eigene „koloniale Vergangenheit“, stehen zurückliegende Veröffentlichungen ebenso entgegen wie eine neuerliche Beauftragung des Historikers Dr. Mustafa Haikal, die zur Verfügung stehenden Quellen neuerlich zu sichten und zu bewerten. Herausgekommen ist eine umfassende Studie, die wir an dieser Stelle veröffentlichen.
Über Jahrhunderte durchdrang und berührte der Kolonialismus sehr viele Lebensbereiche. Auch die Frühgeschichte der europäischen Zoos war mit ihm verbunden und handelte nicht zuletzt von der symbolischen und realen Aneignung der kolonialen Welt. Ein wichtiges Beispiel dafür sind die sogenannten Völkerschauen, die in den vergangenen Jahren verstärkt untersucht wurden. Dabei ist es, trotz der stets notwendigen Empathie für die Leittragenden, wichtig, die Schauen nicht zu dämonisieren, sondern sie klar und sachlich zu analysieren. Mit Blick auf den Zoo Leipzig, in dem etwa 40 Völkerschauen stattfanden, ist das ausgesprochen schwierig. Im historischen Archiv des Zoos gibt es so gut wie keine Dokumente aus der Zeit von Ernst Pinkert, dem Gründer und ersten Direktor des Zoos, und nur sehr wenige aus den Jahren der Aktiengesellschaft. So existieren zu den Völkerschauen im Zoo keine Verträge, Briefe, Berichte oder sonstigen Dokumente, außer einer Sammlung von Zeitungsausschnitten, die im Jahr 1893 beginnt. Die zahlreichen Versuche, die Quellenbasis zur Frühgeschichte des Zoos durch Recherchen in anderen Archiven zu erweitern waren bis auf kleinere Funde erfolglos.
Ein zweites Problem ergibt sich daraus, dass die Völkerschauen mit wenigen Ausnahmen im Leipziger Zoo Station machten, aber ihre Impresarios aus anderen Städten kamen, wo sie die Schauen planten und zusammenstellten. Mit Leipziger Quellen lässt sich das Thema daher nur sehr eingeschränkt bearbeiten. Trotz aller Bemühungen konnten keine Dokumente ausfindig gemacht werden, die über die Gefühle und Erlebnisse der Völkerschauteilnehmer in Leipzig oder über kritische Stimmen aus der Leipziger Öffentlichkeit Auskunft geben würden. Quellen dieser Art sind für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs generell selten. So bleibt am Ende vor allem die Hoffnung, dass durch die umfangreichen Digitalisierungsprojekte der deutschen Archive und Bibliotheken neue Dokumente zum Vorschein kommen.
Durch die Auswertung der erwähnten Zeitungsausschnittsammlung des Zoos und durch Recherchen in verschiedenen Journalen und Tageszeitungen konnten für die Zeit des Direktorats von Ernst Pinkerts rund 90 Presseartikel zu den Völkerschauen im Zoo Leipzig ermittelt werden. Sie spiegeln die Ankunft der Teilnehmer, die Programmgestaltung, die Unterkunft, die Ernährung, die Erwartungen und die Reaktionen der Zuschauer, informieren über die mitgeführten Haus- und Wildtiere, die Kleidung und andere Details. Bei ihrem Studium ist nichtsdestoweniger Vorsicht geboten. Zeitungsberichte sind hochinteressante, zugleich jedoch unzuverlässige Quellen, die in der Regel mit Hilfe weiterer Dokumente verifiziert werden müssen. Die politischen Einstellungen und persönlichen Prägungen der Journalisten können in den Schilderungen ebenso durchschlagen wie die Wünsche der Impresarios und Veranstalter.
Dennoch lassen sich für die untersuchten Völkerschauen (von denen zwei bereits vor der Gründung des Zoos stattfanden) einige Rückschlüsse ziehen, wobei die Programmgestaltung der Schauen hier nicht abermals ausgeführt werden soll. Stattdessen weisen wir darauf hin, dass Autoren wie der Maler Heinrich Leutemann oder der Schriftsteller Rudolf Cronau keineswegs abwertend, sondern nüchtern und zum Teil sogar idealisierend, von den Veranstaltungen berichteten und den Teilnehmern Neugier, Verständnis und Sympathie entgegenbrachten. Der Leipziger Heinrich Leutemann zum Beispiel strich vor allem den anthropologisch-zoologischen Charakter der Lappländerschau von 1875 heraus, da die fünf Teilnehmer mit ihren Rentieren auftraten. Sein Stil ist sachlich und frei von jedem Ressentiment. Eher idealisierend werden dagegen die 1886 in Leipzig gastierenden Dakotas geschildert. Da ist von „wohlgebildeten Männern“ mit „energischen und kühnen Gesichtern“ die Rede, die zirkusreife Kunststücke zur Aufführung brachten. Allerdings gibt es von Schau zu Schau Unterschiede. Umso fremder und andersartiger die zur Schau gestellten Menschen waren, desto mehr wuchs die Distanz und vor allem bei den Gruppen aus schwarzafrikanischen und lateinamerikanischen Ländern lassen sich zahlreiche rassistische Stereotype nachweisen, wird die Berichterstattung von der Gewissheit „kultureller Überlegenheit“ dominiert (zum Beispiel bei der Aschanti-Völkerschau 1899). Inwieweit diese Stereotype im Verlauf der Jahre zunahmen, müsste genauer untersucht werden. Die wachsenden imperialen und kolonialen Ambitionen des Deutschen Kaiserreichs beeinflussten auch die Völkerschauen, die nach der Inbesitznahme der Kolonien zum Teil anders beworben und betrachtet wurden („Deutsche der Südsee“, „Samoa - Unsere Neuen Landsleute“). Alle Schauen dienten der Unterhaltung des Publikums und der in den ersten Jahren von Carl Hagenbeck unternommene Versuch, mit einigen der Gruppen möglichst authentische Bilder zu vermitteln (ein Konstrukt, das für den Zoo insgesamt von großer Bedeutung war), trat schnell in den Hintergrund.
Man muss mit dem Verständnis der Nachgeborenen allein die Tatsache, dass Menschen vor anderen Menschen im Zoo zur Schau gestellt wurden, als eine Form der Diskriminierung beschreiben, zumal, wenn man bedenkt, mit welchen Vorstellungen und Prägungen die Besucher zu den Veranstaltungen kamen. Fälle von grober Behandlung oder unzureichender Ernährung lassen sich für die Pinkert-Zeit in den Zeitungsberichten allerdings nicht nachweisen. Dass die Völkerschauteilnehmer wie Tiere hinter Gittern gezeigt worden wären, ist mit Blick auf Leipzig eine Legende und wo es Absperrungen gab, dienten sie oft dem Schutz der Betroffenen vor der Neugier und der Zudringlichkeiten der Besucher.
Soweit die Quellen eine Einschätzung zulassen, kamen die in Leipzig auftretenden Völkerschauteilnehmer mit Verträgen und freiwillig nach Europa, wobei sie in der Regel nicht ahnen konnten, welchen Strapazen und Gefahren sie ausgesetzt sein würden. Der ununterbrochene Strom der Neugierigen, die Behandlung auf eine Weise, die sie nicht kannten und anthropologische Messungen (in Leipzig nur für die „Dinka-Neger-Ausstellung“ von 1895 nachgewiesen) bereiteten ihnen ebenso Probleme wie die klimatischen Bedingungen. Ein Teil der Völkerschauteilnehmer wohnte in mitgeführten oder schnell zusammengezimmerten Unterkünften (Zelten, Jurten und Hütten) und dürfte in den kalten Jahreszeiten gefroren haben. Die 1876 errichtete Veranstaltungshalle des Leipziger Zoos, das sogenannte Skating-Rink, in der einige der Schauen untergebracht wurden, war eine an mehreren Seiten offene Holzkonstruktion und erst die später errichtete Völkerbühne verfügte über gemauerte Räume. Dass die fremde Ernährung den Teilnehmern zu schaffen machte und dass es zahlreiche Durchfall- und Erkältungserkrankungen gab, ergibt sich aus den Untersuchungen vieler Autoren.
Nach den vorliegenden Kenntnissen lassen sich in den rund 50 Jahren, in denen die Völkerschauen im Leipziger Zoo veranstaltet wurden, zwei Todesfälle nachweisen (ein Aschanti-Kind 1899 und ein 32jähriger Mann aus Äthiopien, der 1906 an einer Lungenentzündung starb). Darüber hinaus muss es in den Gruppen, die in Leipzig gastierten, an anderen Tourneeorten vereinzelt weitere Todesfälle gegeben haben. Von Impresarios wie Robert Cunningham, der seine „Darsteller“ brutal und rücksichtslos ausbeutete, blieb der Leipziger Zoo offenbar verschont. Auch die so desaströsen Völkerschauen mit „acht Eskimos und mit elf Feuerländern", die 1880–1882 mit dem krankheitsbedingten Tod der meisten Teilnehmer endeten, machten hier nicht Station.
Die Anschuldigungen gegen den Zoogründer Ernst Pinkert, die sich fast ausschließlich auf die Völkerschauen beziehen, bedürfen demnach der Differenzierung. Pinkert war ein Mensch des 19. Jahrhunderts, der seinen Zeithorizont hatte, wie wir den unseren heute. Vieles von dem, was er tat, würden wir heute anders machen oder es mit dem heutigen Wertemaßstab wie im Fall der Völkerschauen gänzlich ablehnen. Dass Pinkert diese Schauen veranstaltete oder ihnen Raum bot, gehört aus heutiger Sicht zu den Widersprüchlichkeiten seiner Biografie. Pinkert war Teil eines gesellschaftlichen und politischen Systems, in dem kaum jemand an den Völkerschauen Anstoß nahm, weder die Leipziger Stadtverwaltung, noch die Direktoren der Zoos, weder die Wissenschaftler der Universität, noch die Bürger und Arbeiter.
Was die Aufarbeitung der Völkerschauen und der Biographie Pinkerts betrifft, so ist es der Leipziger Zoo gewesen, der das Thema in seinem von Dr. Haikal als Co-Autor verantworteten Jubiläumsband 2003 erstmals und auf Basis der zur Verfügung stehenden Quellen nach Jahrzehnten vollkommener Sprachlosigkeit der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Um dem Leser die Möglichkeit einzuräumen, sich ein eigenes Urteil zu bilden, wurden die entsprechenden Seiten damals breit illustriert und mit elf historischen Zeitungsberichten versehen, wobei vorrangig die kritischen Punkte angesprochen wurden. Bis heute zehren fast alle Auseinandersetzungen mit dem Thema von dieser Publikation, was ihre anhaltende Wirksamkeit und die Aufarbeitung des Themas durch den Zoo unterstreicht. Die Völkerschauen standen im Rahmen der Geschichtsaufarbeitung seinerzeit zwar nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber sie wurden keineswegs verschwiegen oder relativiert.